Was sind Orientierungspunkte der Kinder- und Jugendhilfe in herausfordernden Zeiten? Diese Frage stand im Fokus der Fachveranstaltung des Bundesjugendkuratoriums auf dem 18. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag. Unter der Überschrift „Fachliche Koordinaten einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe – Impulse für die zukünftige Fachdebatte und -politik“ lud das Bundesjugendkuratorium (BJK) dazu ein, die Frage nach Leitlinien der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam zu diskutieren und neu zu denken.
Einladung zu offener und breiter Fachdiskussion
Einleitend verdeutlichte Dr. Christian Lüders, BJK-Mitglied und Vorsitzender der Arbeitsgruppe SGB VIII, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche und dem damit einhergehenden Verlust von Gewissheiten, aber auch aufgrund interner Strukturprobleme und umfassender Aufgaben, wie der Inklusion, in einer schwierigen Lage befinde. Gerade in diesen Zeiten gelte es, sich über Orientierungspunkte auszutauschen und vor allem – diese Diskussion offen und gemeinsam zu führen. Mit dem im Januar 2024 veröffentlichten Papier „Fachliche Koordinaten einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“ (Bundesjugendkuratorium 2024) habe das BJK zum einen die bestehenden Strukturmaximen aus dem achten Kinder- und Jugendbericht (Deutscher Bundestag, 1990) gewürdigt, aber zugleich auch verdeutlicht, dass es 35 Jahre später einer Aktualisierung bedürfe. Ausgehend von einem rechtebasierten Ansatz, der junge Menschen als aktive Grundrechtsträger*innen begreife, habe das BJK in seinem Papier sechs fachliche Koordinaten entwickelt.
Vorschläge für fachliche Koordinaten der Kinder- und Jugendhilfe
Um in der Debatte an diese Vorschläge anknüpfen zu können, gaben die BJK-Mitglieder Daniela Broda, Prof. Dr. Wolfgang Schröer und Dr. Kristin Teuber einen kurzen Einblick in die Inhalte der Koordinaten.
Die Verwirklichung des Rechts auf gewaltfreies Aufwachsen sei Auftrag und Grundorientierung der Kinder- und Jugendhilfe und brauche, so Kristin Teuber, vor allem auch die vorausschauende Herstellung von Gewaltfreiheit. Wolfgang Schröer betont, dass die Kinder- und Jugendhilfe den sozialpolitischen Gestaltungsauftrag innehabe, sich ausgehend von der Diversität in den Lebenslagen junger Menschen für soziale Anerkennung und Gerechtigkeit einzusetzen. Unter der Überschrift Inklusion und soziale Teilhabe stehe das Anliegen, eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe, gleichberechtigte Zugänge und diskriminierungsfreie Teilhabe umzusetzen, so Kristin Teuber. Daniela Broda stellt fest, dass die Debatten auf dem DJHT, der dieses Jahr unter dem Motto „Weil es ums Ganze geht: Demokratie durch Teilhabe verwirklichen!“ stand, zeigten, dass die Themen Beteiligung und Demokratiebildung in der Kinder- und Jugendhilfe breit diskutiert würden – weiter gelte es jedoch mögliche Ansatzpunkte für die Umsetzung in den Blick zu nehmen. Damit sich junge Menschen gerade auch in Krisenzeiten auf die Kinder- und Jugendhilfe verlassen können, brauche es resiliente Infrastrukturen und Organisationsstrukturen hebt Wolfgang Schröer hervor. Den Blick nach vorne richtend, ergänzt Daniela Broda, dass die Kinder- und Jugendhilfe ihren Beitrag dazu leiste und weiter leisten müsse, dass das Recht auf Zukunft für junge Menschen verwirklicht werde.
Dr. Christian Lüders, Mitglied des Bundesjugendkuratoriums
Kommentare aus fachlicher Perspektiven des Bundes, der Kommunen und Wissenschaft
Rolf Diener, Abteilungsleiter Junge Menschen und Familie bei der Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration in Bremen, forderte, dass man antidemokratischen Bedrohungsszenarien, aber auch Debatten um eine Zwei-Klassen-Kinder- und Jugendhilfe entschieden begegnen müsse. Zudem signalisierte er Zustimmung für eine stärkere Fokussierung auf Ungleichheiten, die Absenkung des Wahlalters wie auch eine starke und robuste Struktur der Kinder- und Jugendhilfe. Auch mit Blick auf seine Erfahrungen aus der Berichtskommission des 17. Kinder- und Jugendberichts ergänzt Prof Dr. Benedikt Hopmann, Professor für Erziehungswissenschaft am Institut für Sozialpädagogik der Universität Siegen die Gedanken zur Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Es gelte, auch die eigene Rolle als attraktiver Arbeitgeber, die Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Bereich Digitalisierung zu thematisieren. Jana Borkamp, Abteilungsleiterin Kinder und Jugend (BMBFSFJ) begrüßte den angestoßenen Diskurs, da die Auseinandersetzung mit den potentiellen Koordinaten dazu beitrage, Systemlogiken zu reflektieren sowie sich der eigenen Sprache und Perspektive bewusst zu machen. Aus Ihrer Sicht sei es notwendig, die Kinder- und Jugendhilfe so aufzustellen, dass sie vertrauensvoller Partner für junge Menschen sein könne.
Im Austausch bleiben – auch mit Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe
Im Anschluss an die Kommentierungen entwickelte sich eine Diskussion zu Fragen der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe – vor allem mit Blick auf Umwelt- und Klimaschutz oder (psychischer) Gesundheit. Doch auch das Selbstverständnis und die Ambivalenz zwischen der Handlungsfähigkeit und Resilienz der Kinder- und Jugendhilfe auf der einen und der Krisenrhetorik und dem Hinweis auf Missstände auf der anderen Seite wurden angesprochen. Das Publikum wies weiter auf die Rolle der freien Träger und den teils dynamischen Auf-und Abbau der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe hin. Abschließend betont Christian Lüders, dass die Einladung zu einer Debatte um Orientierungspunkte der Kinder- und Jugendhilfe auch an junge Menschen gerichtet werden müsse, deren Perspektiven für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe bereichernd und notwendig seien.
Text: Sofie Jokerst
Bildnachweis: © DJI/Martin Kern
Literatur:
Bundesjugendkuratorium (2024): Fachliche Koordinaten einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe – Impulse für die Fachdiskussion. Impulspapier. München, 01/2024. https://bundesjugendkuratorium.de/presse/die-kinder-und-jugendhilfe-an-neuen-koordinaten-ausrichten.html
Deutscher Bundestag (1990): Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe – Achter Jugendbericht. Deutscher Bundestag Drucksache 11/6576 vom 06.03.90. Bonn 1990.
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